Ich habe mich als Kind ab und zu gefragt, ob die anderen Kinder in der Schule die Stimme auch hören, die ich beim Lesen in meinem Kopf höre. Hörst du eine Lesestimme in deinem Kopf oder guckst du dir den Text an und der Sinn der Wörter kommt von ganz alleine? Das Thema der inneren Stimme wurde bislang noch nicht empirisch untersucht. Anfang Januar 2016 erschien jedoch ein Artikel in der Zeitschrift Psychosis, der versucht, diese Thematik zu untersuchen. Die Autorin fand heraus, dass die meisten Leute, deren Aussagen für diese Untersuchung herangezogen wurden, eine innere Stimme beim Lesen hören. Die Untersuchungsmethoden sind jedoch fragwürdig und auch die Ergebnisse der Studie sind natürlich nicht das Maß der Validität. Aber das war auch nicht das Ziel der Autorin.
Das amerikanische Internetunternehmen Yahoo zählt noch immer zu den größten Portalen im Internet. Unter anderem bietet Yahoo! eine Serviceplattform an, auf der die User anonym Fragen stellen können. Die Antworten kommen von den anderen Usern der Plattform. Das Ganze nennt sich Yahoo! Answers. Auf dieser Plattform posten Mitglieder auch ab und an Umfragen. Zufällig auch zu dem Thema der inneren Stimme.
Auf diese Umfragen wurde die amerikanische Psychologin Ruvanee P. Vilhauer aufmerksam. Vilhauer arbeitet an der New York University und hat herausgefunden, dass im Zeitraum von 2006 bis 2014 mehrere Umfragen bezüglich der inneren Stimme gepostet wurden. Sie hat ingesamt 24 Umfragen samt Antworten der User betrachtet. Die User haben beschrieben was sie während des Lesens so erleben. Vil hauer hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Antworten zu evaluieren, um ein bisschen Licht in dieses schattige Thema zu bringen (das ist jetzt der Teil, den man als „methodisch fraglich“ einordnen könnte).
Die Untersuchung zeigt, dass 82.5% der User tatsächlich eine oder mehrere innere Stimmen beim Lesen wahrnehmen. Lediglich 10.6% haben beschrieben, dass sie keine innere Stimme hören. Sie gaben an, dass sie beim Lesen die Wörter und Sätze anschauen und sich der Sinn des Geschriebenen einfach ergibt. Aus dem übrig gebliebenen Anteil der Antworten konnten keine klaren Rückschlüsse auf das Leseerlebnis der User gezogen werden. 13% der User, die eine innere Stimme beim Lesen wahrnehmen, gaben an, dass das Auftauchen der inneren Stimme von verschiedenen Faktoren abhängig sei. Beispielsweise davon, ob ein Buch oder Text sie interessieren würde.
Interessanterweise hören mehr als die Hälfte der User, die eine innere Stimme wahrnehmen, sogar verschiedene Stimmen. Zu diesen Stimmen gehören ihre eigene, die von Charakteren aus Büchern, Zusendern von Sms-Nachrichten (also die Stimmen der Freunde, mit denen sie jeweils texten). Außerdem Stimmen von Prominenten, Angehörigen oder unbekannte Stimmen, die sich allerdings nicht fremd anfühlen. Für die User, die immer die gleiche innere Stimme hören, ist es meistens ihre eigene. Allerdings kann diese Stimme sich von der gesprochenen Stimme in der Tonlage oder den geäußerten Emotionen ab und zu unterscheiden.
Die inneren Stimmen wurden von 95,5% der User als „hörbar“ eingestuft. Bestimmte auditive Eigenschaften, wie die Lautstärke, die Tiefe, der emotionale Ton ( zum Beispiel ein lüsternes Flüstern), der Akzent und die Tonhöhe wurden beschrieben. Es gab sogar Angaben, dass die wahrgenommene innere Lesestimme gruselig sei. Ein User berichtet, dass er gelegentlich von seiner inneren Stimme angeschrien werden würde. Die Inhalte diese „Angriffe“ würden jedes Mal mit dem zutun haben, was er vor kurzem gelesen hat. Andere gaben an, dass sie beim Lesen von ihrer Stimme abgelenkt werden würden. Bei 3 Usern hätte sich tatsächlich eine Aversion gegen das Lesen entwickelt. Es sei nicht möglich die innere Stimme zu unterdrücken.
Wenn man an seine innere Stimme denkt, könnte man auch die Stimme meinen, die beim Denken präsent ist. Einige User gaben an, dass ihre innere Lesestimme sich nicht oder kaum von ihrer „Denkstimme“ unterscheidet. Diese User gaben auch an, dass sie denken, diese Phänomen wäre ganz normal und andere Leute würden auch Stimmen hören. Es gibt Theorien, die beschreiben dass auditive Halluzinationen innere Stimmen sind, die fälschlicherweise als fremde Stimmen identifiziert werden. Die Autorin des Artikels behauptet, dass die Ergebnisse der Analyse zwar keine felsenfesten Beweise liefern, aber stückweit diese Theorien unterstützen.
Doch warum hat sich bis vor kurzem niemand so richtig mit diese Thematik auseinandergesetzt? Vilhauer vermutet, dies könnte damit zutun haben, dass viele die Wahrnehmung ihrer inneren Stimme als normal ansehen und deswegen davon ausgehen, dass andere gleiche Wahrnehmungen haben. Der Klassiker. Von sich auf andere schließen. Das gilt auch für die Leute, die keine innere Stimme wahrnehmen. Für die ist es halt normal, nix wahrzunehmen was irgendwas mit komische Stimmen zutun hat. Am Ende des Tages zählt doch, dass jemand ein „neues“ Phänomen aufgedeckt hat und die wissenschaftliche Community sich daran setzten kann dieses Phänomen weiter zu untersuchen. Kritiker könnten natürlich behaupten, dass die Studie von Frau Vilhauer nicht empirisch fehlerlos ist. Aber das ist, meiner Meinung nach, auch gar nicht Sinn der Sache. Jetzt weiß man wenigstens, dass nicht alle Menschen die gleichen Erfahrungen beim Lesen machen. Und noch viel wichtiger: nicht jeder der Stimmen hört muss sofort zum Psychologen rennen.